Teil 4 – Umbruch

In den Kirchen tauchen neue unangepasste Jugendgruppen auf. Die Basis der ehemaligen Neustädter Offenen Arbeit wirkt in privaten Hauskreisen weiter. Ständig beobachtet und bedrängt durch staatliche Stellen und das MfS. Etliche verlassen die DDR, andere bleiben, um die Zustände zu verändern und einige werden verhaftet. Viele der Bewegten suchen neue Formen des Widerstandes und engagieren sich in Friedens- und Umweltgruppen. In der zweiten Hälfte der 1980er Jahre gehören ehemalige Mitglieder der OA zu den Unerschrockenen, die offen den aufrechten Gang wagen. Bis 1989 werden diese Protagonisten Teil der Opposition, die das System der Gesinnungsdiktatur zum Einsturz bringt.

Nach der Verhaftung und Verurteilung Lothar Rochaus bot die Christusgemeinde in der Freiimfelder Straße mit Stadtjugendpfarrer Siegfried Neher eine Anlaufstation für Jugendliche und junge Erwachsene aus der Offenen Arbeit Halle-Neustadt. Mit den Punks wartete dort aber bereits die nächste Generation von „negativ-feindlichen Elementen“ auf.

Luther und die Punks (Foto: Agnes Thelaner-Castro/ Privatbesitz: Moritz Götze).

Mit den 80er Jahren erreicht eine neue Jugendsubkultur die DDR. Die Punks stoßen im Allgemeinen auf Unverständnis. 1982 bieten die 7. Werkstattage der OA in der Luthergemeinde der im Osten noch seltenen Spezies eine vorbehaltlos offene Tür. Auf der Veranstaltung gibt es eines der ersten Konzerte mit Punkmusik in der DDR. Etliche aus der OA Ha-Neu finden nach dem Rauswurf in Halle-Neustadt bei der JG der Luthergemeinde von Stadtjugendpfarrer Neher eine offene Tür. Luther und die Punks (Foto: Agnes Thelaner-Castro/ Privatbesitz: Moritz Götze).

Mit den 80er Jahren erreicht eine neue Jugendsubkultur die DDR. Die Punks stoßen im Allgemeinen auf Unverständnis. 1982 bieten die 7. Werkstattage der OA in der Luthergemeinde der im Osten noch seltenen Spezies eine vorbehaltlos offene Tür. Auf der Veranstaltung gibt es eines der ersten Konzerte mit Punkmusik in der DDR. Etliche aus der OA Ha-Neu finden nach dem Rauswurf in Halle-Neustadt bei der JG der Luthergemeinde von Stadtjugendpfarrer Neher eine offene Tür.

Zukünftige Vorhaben der nunmehr ehemaligen Mitglieder der OA wurden in drei Hauskreisen mit wechselnder Besetzung geplant. Das Ende der Offenen Arbeit war für viele ihrer übrig gebliebenen Protagonisten ein einschneidendes Erlebnis. Die dramatischen Ereignisse der vergangenen Jahre machten ihnen bewusst, welche Konsequenzen kritisches Handeln in einer Diktatur haben konnte. Einige wendeten sich von den Verhältnissen in der DDR ab und reisten aus, andere wurden zur Ausreise gedrängt. Die Mehrzahl entschied sich für das Hierbleiben und Verändern der Zustände.

Umweltverschmutzung im Chemiedreieck (Gestaltung: Agnes Thelaner-Castro/ Privatbesitz: Eckhard Kränz).

Thematisch spezialisierte Arbeitskreise agieren in der zweiten Hälfte der 1980er Jahre mit und ohne Schutz der Kirche. Die oppositionelle Bewegung erstarkt. Probleme, um Protest zu artikulieren, hat der DDR-Staat kurz vor seinem 40. Gründungsjahr ausreichend angesammelt. Hier: Die Ökologische Arbeitsgruppe Halle (ÖAG) macht mit einer Flugkarte drastisch auf die unhaltbaren Zustände bei der Verschmutzung von Luft und Gewässern im Bezirk aufmerksam. Die Aufzucht von Jungtieren im Bereich gilt unter landwirtschaftlichen Bedingungen als bedenklich.   Umweltverschmutzung im Chemiedreieck (Gestaltung: Agnes Thelaner-Castro/ Privatbesitz: Eckhard Kränz).

Thematisch spezialisierte Arbeitskreise agieren in der zweiten Hälfte der 1980er Jahre mit und ohne Schutz der Kirche. Die oppositionelle Bewegung erstarkt. Probleme, um Protest zu artikulieren, hat der DDR-Staat kurz vor seinem 40. Gründungsjahr ausreichend angesammelt. Hier: Die Ökologische Arbeitsgruppe Halle (ÖAG) macht mit einer Flugkarte drastisch auf die unhaltbaren Zustände bei der Verschmutzung von Luft und Gewässern im Bezirk aufmerksam. Die Aufzucht von Jungtieren im Bereich gilt unter landwirtschaftlichen Bedingungen als bedenklich.

Die OA-Gruppe zerstreute sich nach 1983. Ihre Mitglieder engagierten sich in neuen Gruppen wie „Frauen für den Frieden“, die ein atomwaffenfreies Europa in Ost und West forderten. Einige arbeiteten weiter in Umwelt-Gruppen wie der Ökologischen Arbeitsgruppe Halle (ÖAG), andere schlossen sich Menschenrechtsgruppen an. Das geschah Mitte der 1980er Jahre noch überwiegend im kirchlichen Rahmen, teilweise aber lösten sich die Initiativen bereits aus diesem schützenden Verband heraus. Mit Untergrundzeitschriften und spektakulären Aktionen machten sie etwa auf die katastrophalen Umweltverhältnisse in der DDR aufmerksam. Eine offen oppositionelle Bewegung entwickelte sich republikweit, und ehemalige OAler waren daran beteiligt. Dabei stellte sich im Verlauf der 80er Jahre eine gewisse Routine im Umgang mit dem MfS und den staatlichen Stellen ein.

5. Juni 1989 – Weltumwelttag (Fotos: Matthias Augustin und Andreas Baumgartner/ Privatarchiv: Andreas Baumgartner).

Eine erste Gruppe veranstaltet ein „Schauangeln“ in der völlig verdreckten Saale, um die Aufmerksamkeit der Volkspolizei auf sich zu ziehen. Was auch gelingt. (Fotos: Matthias Augustin).

Eine erste Gruppe veranstaltet ein „Schauangeln“ in der völlig verdreckten Saale, um die Aufmerksamkeit der Volkspolizei auf sich zu ziehen. Was auch gelingt. (Fotos: Matthias Augustin).

Mit einem Ablenkungsmanöver gelingt es der Ökologischen Arbeitsgruppe, die staatlichen Stellen zu verwirren. Das gibt etwas Zeit… Unter höchsten Sicherheitsvorkehrungen wird der Coup geplant und passgenau durchgeführt. Auch ehemalige Mitglieder der Offenen Arbeit Halle-Neustadt sind unter den Aktiven.

Zur gleichen Zeit hängt eine zweite Gruppe, als Bauarbeiter getarnt, ein über 30 Meter langes Transparent an der Mansfelder Brücke auf. „Wir haben die Erde nicht geerbt, sondern nur von unseren Kindern geliehen“ prangt dort in großen Lettern. (Fotos: Andreas Baumgartner).

Zur gleichen Zeit hängt eine zweite Gruppe, als Bauarbeiter getarnt, ein über 30 Meter langes Transparent an der Mansfelder Brücke auf. „Wir haben die Erde nicht geerbt, sondern nur von unseren Kindern geliehen“ prangt dort in großen Lettern. (Fotos: Andreas Baumgartner).

1987 gründete sich schließlich in Berlin die „Kirche von Unten“ (KvU). Teile des alten OA-Netzwerkes wurden reaktiviert. Die Kirchenführung setzte auf Ausgleich mit dem Staat. Ihr setzte sich nun eine ernstzunehmende innerkirchliche Opposition entgegen.

Fliegendes Papier Nr.10/ Kirche Von Unten Berliner Gruppe (Privatbesitz: Eckhard Kränz).

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In der 2. Hälfte der 1980er Jahre sammeln sich immer mehr Gruppen unter dem schützenden Dach der Kirche. Die Unzufriedenheit an der kirchlichen Basis über den offiziellen Kurs der evangelischen Kirche gegenüber dem Staat wuchs zur Frustration heran. Im Frühjahr 1987 kommt es zur Ausgründung einer Kirche Von Unten – KvU. Die Offene Arbeit und der kircheninterne Umgang damit sind eines der Leitmotive des Protests überwiegend Jüngerer gegen die eigene Kirchenleitung und ihren Umgang mit der Macht. 2 Jahre vor dem Mauerfall sind oppositionell orientierte Basisgruppen in der DDR stark genug vernetzt, dem Bund der evangelischen Kirchen in der DDR demonstrativ das Vertrauen zu entziehen.

Wo immer etwas passierte, Protagonisten der Offenen Arbeit, unter ihnen ehemalige OAler aus Ha-Neu, waren stets zugegen. So auch im Jahr der friedlichen Revolution 1989. Etwa bei der Aufdeckung des Wahlbetruges im Mai oder der ersten Montagsdemonstration im Oktober. Am 26. Oktober des Jahres mussten staatliche Vertreter auf einer freien Bürgerversammlung auch ihnen das erste Mal Rede und Antwort stehen. Das System fiel zusammen.

Doch dieser Sieg war auch mit Opfern verbunden. Stundenlange Verhöre, Haft, Überwachung, die Verweigerung von Studienplätzen und Ausreisen prägten die Biographien der Einzelnen. Auch tragische Verluste. Wie der ungeklärte Tod des Freundes und Jenaer OA-Aktivisten Matthias Domaschk in der MfS-Untersuchungshaftanstalt Gera.

Unter strikter Wahrung der Konspiration (Aus einer Anlagekarte/ BStU, MfS, BV Halle, Sachakte Nr. 1762, S. 16).

Ab 1990 dann wird klar: Es gab eine flächendeckende Überwachung der gesamten Offenen Arbeit. Das MfS hatte die OAler systematisch kategorisiert. In manchen „Operativen Vorgängen“ sind über 200 Personen gleichzeitig bearbeitet worden. Zur Illustration nur einige Decknamen von Verfahren der Staatssicherheit zur "Bearbeitung" der Personen in der OA: Jonas, Psychologe, Regie, Schatten, Dämon, Famos, Konfession, Treffpunkt, Prävention…  Unter strikter Wahrung der Konspiration (Aus einer Anlagekarte/ BStU, MfS, BV Halle, Sachakte Nr. 1762, S. 16).

Ab 1990 dann wird klar: Es gab eine flächendeckende Überwachung der gesamten Offenen Arbeit. Das MfS hatte die OAler systematisch kategorisiert. In manchen „Operativen Vorgängen“ sind über 200 Personen gleichzeitig bearbeitet worden. Zur Illustration nur einige Decknamen von Verfahren der Staatssicherheit zur “Bearbeitung” der Personen in der OA: Jonas, Psychologe, Regie, Schatten, Dämon, Famos, Konfession, Treffpunkt, Prävention…

1990 öffneten sich mit Gründung der Stasi-Unterlagenbehörde die Archive der Staatssicherheit. Geahnt hatten es die meisten schon vorher, doch nun offenbarte sich das ganze Ausmaß der Überwachung. Einige ehemalige Mitstreiter und Weggefährten wurden als Verräter entlarvt.

Täuschung und Enttäuschung (Versicherungsanschreiben/ Privatbesitz: Eckard Kränz).

Mit der Wiedervereinigung kommt die Möglichkeit zur Einsichtnahme in die eigenen Stasi-Akten. Eine gesellschaftliche Hypothek: Wer seine ausspionierte Vergangenheit in Augenschein nimmt, erfährt oftmals, dass er oder sie von vertrauten Menschen verraten wurde. Kirche und OA waren massiv von der Staatssicherheit unterwandert. Nach 1989 erschließt sich das Ausmaß der Bespitzelung. In der Folge kollabieren Beziehungen im Nahfeld.  Täuschung und Enttäuschung (Versicherungsanschreiben/ Privatbesitz: Eckard Kränz).

Mit der Wiedervereinigung kommt die Möglichkeit zur Einsichtnahme in die eigenen Stasi-Akten. Eine gesellschaftliche Hypothek: Wer seine ausspionierte Vergangenheit in Augenschein nimmt, erfährt oftmals, dass er oder sie von vertrauten Menschen verraten wurde. Kirche und OA waren massiv von der Staatssicherheit unterwandert. Nach 1989 erschließt sich das Ausmaß der Bespitzelung. In der Folge kollabieren Beziehungen im Nahfeld.

Hunderte junge Menschen hatten im Laufe der sechs Jahre Kontakt zur Offenen Arbeit in Halle-Neustadt – ob getauft oder nicht. Manche wegen Problemen mit dem Staat, sich selbst oder ihren Familien, andere befanden sich auf der großen Suche. Wieder andere waren wegen des gebotenen Freiraums gekommen, etliche aus jugendlicher Freude am Feiern. Für sie alle wurde die Passendorfer Kirche in der prägenden Phase des Erwachsenwerdens zum Zentrum ihres Lebens. Doch sie bildeten kein gleichmachendes Kollektiv. Vielmehr gestalteten sie in Offener Arbeit eine Gemeinschaft höchst verschiedener Individualisten.