Ab 1979 überfordern die Besucherzahlen der Werkstattage die Kapazitäten der Kirche. Die Staatssicherheit beobachtet den Störfall der sozialistischen Normalität bereits mit Argwohn. Als im Oktober des Jahres zu den 4. Werkstattagen unliebsame Künstler auftreten, gehen die staatlichen Stellen in die Offensive über. Für die Unterbindung der Werkstattage in Halle-Neustadt soll die Kirchengemeinde verpflichtet werden. Der Staat macht sich das in der Gemeinde gewachsene Unbehagen an der Offenen Arbeit zunutze, um diese Spannungen zu verstärken. Für das Ende der Offenen Arbeit in Halle-Neustadt bedarf es der Entfernung des Jugenddiakons aus seiner Dienststelle. Eine kirchenintern wirksame Diskreditierung seiner Person soll das leisten. Die Verhaftung von Mitgliedern eines Hauskreises gerät zum Anlass für die Inszenierung des Zerwürfnisses.
Dem Staat der Diktatur war der Betrieb der Offenen Arbeit am Rande seines städtebaulichen Prestigeobjekts nicht verborgen geblieben. Mit dem Ansturm der Massen konnte man sich der Aufmerksamkeit der Staatsmacht nicht mehr entziehen. Diese gab nach den 4. Werkstattagen ihre vordergründige Zurückhaltung gegenüber der Offenen Arbeit in Halle-Neustadt auf. Seit Ende 1977 war der Diakon Lothar Rochau bereits inoffiziell im Rahmen einer Operativen Personenkontrolle (OPK) und eines Operativen Vorgangs (OV) durch das MfS beobachtet und „bearbeitet“ worden. Spätestens seit Mitte 1978 sorgten mehrere IMs für stetige Informationen zu allen Aktivitäten der OA.
Seit Herbst 1979 schalteten sich offizielle Stellen hinzu. Gründe für ein direktes Eingreifen sah man vor allem im Auftritt der Liedermacherin Bettina Wegner und in der Ausstellung von Karikaturen des Erfurter Künstlers Alois „Ali“ Kuhn bei den 4. Werkstattagen. Sowohl die Texte der Sängerin als auch die Zeichnungen des Karikaturisten kritisierten offen die gesellschaftlichen Zustände in der DDR der Ära Honecker. Beide hatten bereits landesweit Auftritts- bzw. Ausstellungsverbot. Und auf den Werkstattagen nun bekamen sie eine Bühne! Ein Affront.
Entsprechend harsch reagierte der Staat mit Maßnahmen. Bereits im Vorfeld der Veranstaltung wurden Vertreter der Gemeindeleitung und Jugenddiakon Rochau zur Aussprache einbestellt. Gefordert wurde, Bettina Wegner wieder auszuladen – oder: die Konsequenzen zu tragen!
Nach der Veranstaltung verschärften sich sowohl Ton als auch Gangart merklich. Die Gemeindeleitung musste sich den kirchenpolitischen Stellen der Abteilungen für Inneres von Stadt und Bezirk gegenüber in mehreren Aussprachen rechtfertigen. Sie hatte den Auftritt von Bettina Wegner bewilligt und es zugelassen, dass die „herabwürdigenden“ Karikaturen des zu dieser Zeit schon wegen staatsfeindlicher Hetze inhaftierten Ali Kuhns zur Ausstellung kamen.
Der staatlichen Einschätzung nach verstießen die 4. Werkstattage klar gegen die rigide Veranstaltungsverordnung für kirchliche Feiern. Der Vorwurf an die Gemeindeleitung lautete: es handelte sich um keine religiöse Veranstaltung, da politisch brisante Themen vermittelt worden waren. Daher hätte die Veranstaltung ordnungsgemäß angemeldet werden müssen. Ein solch schweres Versäumnis, so die vehement vorgetragene Forderung, dürfe sich nicht wiederholen. Geschickt wurde die Gemeindeleitung von den zuständigen kirchenpolitischen Stellen verantwortlich gemacht. Rigoros wurde das Ende solcher Veranstaltungen von der Kirchengemeinde gefordert. Es drohte eine massive Verschlechterung ihres Verhältnisses zum Staat.
Ab sofort mussten die Pläne für die Veranstaltung beim Stadtrat für Inneres vorgelegt werden. Zudem sollte die Gemeindeleitung zukünftig die Anwesenheit von Gästen, die staatlicherseits unerwünscht waren, im Voraus nicht nur melden sondern eigenständig verhindern. Trotz verschärfter Auflagen platzte die Kirche bei den 5. Werkstattagen im Mai 1980 mit ca. 700 Teilnehmern aus allen Nähten. So kamen zum Unmut in der Gemeindeleitung über den Ärger mit dem Staat pragmatisch drängende Sorgen hinzu. In der Folge übten die politisch verantwortlichen Stellen mit permanenten Aussprachen und teils fingierten Beschwerden gezielt Druck auf die Gemeindeleitung aus, sodass sie schließlich im Oktober 1980 die Werkstattage auf ihrem Gelände untersagte. Aus anfangs sachlichen Differenzen über die Gestaltung der Jugendarbeit und deren Politisierungsgrad waren ernsthafte Spannungen in der Kirchengemeinde entstanden.
Der „Störfall“ Offene Arbeit wurde in Halle-Neustadt vom Staat auf zwei Ebenen forciert. Auf der einen Seite sollte von den offiziellen kirchenpolitischen Stellen ein sogenannter Differenzierungsprozess aktiv betrieben werden. Dazu waren die bereits vorhandenen Meinungsverschiedenheiten und Spannungen in der Kirchengemeinde und innerhalb des kirchenleitenden Personals zu verstärken. Die Konflikte über die Umsetzung und den Politisierungsgrad der Jugendarbeit sollten, wenn möglich, bis zum Zerwürfnis zwischen Gemeindeleitung und Jugenddiakon getrieben werden.
Auf der anderen Seite sollte der durch das MfS inoffiziell eingeleitete Zersetzungsprozess strafrechtlich verwertbares Belastungsmaterial für eine wirksame Diskreditierung Lothar Rochaus und der Offenen Arbeit liefern. Die Doppelstrategie folgte einem Zweck – dem Ende der Offenen Arbeit in Halle-Neustadt. Hierfür war letztlich die Entfernung des Jugenddiakons aus seiner Dienststellung notwendig. Noch aber fehlte ein geeigneter Anlass.
Anfang 1981 bot sich den staatlichen Stellen die entscheidende Gelegenheit. Mit der Eröffnung des Operativvorgangs „Konventikel“ ergab sich für den Staatsapparat die Möglichkeit, die Offene Arbeit in Halle-Neustadt zu zerschlagen. „Inoffiziell“ wurde bekannt, dass eine aus Freunden der OA bestehende Fünfergruppe einen kritischen Text über die Verhältnisse in der DDR verfasste. Auch Lothar Rochau arbeitete an diesem Vorhaben mit. Friedemann Rösel und Gunter Preine, zwei Mitglieder des kleinen Kreises, wurden verhaftet. Einer der Mitstreiter hatte sie verraten. Als IMB „Frank Krüger“ belieferte er nicht nur das MfS kontinuierlich mit Informationen, sondern war wesentlich dafür verantwortlich, dass die Zusammenkünfte konspirativ erfolgten, um den Straftatbestand der staatsfeindlichen Gruppenbildung zu erfüllen. Aber auch er wusste nicht, dass selbst die Wohnung für die Treffs verwanzt war.
Anstelle den Jugenddiakon unmittelbar zu verhaften, wurde aus strategischen Gründen darauf verzichtet. Stattdessen setzte das MfS auf die nachhaltige „Differenzierung“ von OA, Gemeinde und Kirchenkreis sowie auf die „Zersetzung“ der Person Rochaus. Den Jugenddiakon schützte zu diesem Zeitpunkt zwar ein Stück weit seine kirchliche Anstellung vor dem direkten Zugriff der Staatsmacht, die allerdings war aufgrund der politischen Brisanz des Vorfälle – wie beabsichtigt – akut gefährdet.
In detailliert inszenierten Aussprachen konnte den Kirchenleitungsmitgliedern nun ein überambitionierter Jugenddiakon präsentiert werden: Aufgrund seiner feindlich-negativen Einstellung habe er seine Pflichten verletzt und Heranwachsende zu politischen Straftaten nach § 106 („Staatsfeindliche Hetze“) verleitet. Vom Bischof der Kirchenprovinz Sachsen forderte der Bezirksstaatsanwalt disziplinarrechtliche Konsequenzen. Beflissentlich vermerkt wurde eine Zusage der Prüfung entsprechender Maßnahmen bei strafrechtlichen Konsequenzen des Verfahrens. Es folgten kircheninterne Aussprachen zur Klärung des Sachverhalts mit und ohne den Jugenddiakon. Ein vom Bischof der KPS in Auftrag gegebenes Rechtsgutachten empfahl die Versetzung Rochaus für den Fall der Verurteilung.
Oberkonsistorialrat Hammer, 1991 als Offizier im besonderen Einsatz (OibE) enttarnt, informierte die Kirchengemeinde Halle-Neustadt über die Verurteilung von Preine und Rösel zu je 30 Monaten Haft. Daraufhin beschloss die Gemeindeleitungssitzung Mitte Oktober, „daß die Jugendarbeit von Rochau nicht mehr verantwortet werden kann“. Die vom Konsistorium der Landeskirche in Magdeburg erbetene Empfehlung bestätigte diese Einschätzung nur. Die Gemeindeleitung Halle-Neustadt forderte nun vom Kreiskirchenrat die Entbindung Rochaus von seinem Amt. Alle Versuche, zwischen Kirchengemeinde und OA zu vermitteln, scheiterten. Der Kirchenkreis als Arbeitgeber des Jugenddiakons empfahl dem Geschassten daraufhin am 15. Februar 1982 den Stellenwechsel. Damit war die Entscheidung verbindlich.
Der „Differenzierungsprozess“ erwies sich für den Staat als Erfolg. Gemeindeleitung und Jugenddiakon hatten sich einander soweit entfremdet, dass ein Rückhalt durch die Kirchengemeinde in dieser Lage nicht mehr möglich schien. Doch wer hatte die Jugendlichen und Jungerwachsenen gefragt? Und was sollte nun aus der OA werden?