Nach dem Zerwürfnis zwischen Gemeinde und Jugenddiakon gerät die Offene Arbeit in Halle-Neustadt in eine isolierte Lage. Der Verbleib Rochaus wird über die Grenzen Halle-Neustadts hinaus zum Politikum. Weil sich in der Kirchenprovinz Sachsen keine Stelle für ihn findet, wird er im März 1983 aus dem aktiven Kirchendienst entlassen. Damit steht der ehemalige Jugenddiakon der Staatsmacht schutzlos gegenüber.
Die Offene Arbeit hat zu diesem Zeitpunkt in Halle-Neustadt bereits keine institutionelle Zukunft mehr. Die Frustration unter den Herangewachsenen ist groß. Gemeinsam mit Lothar Rochau wagen sie öffentlichen Protest. Am Weltumwelttag 1983 gelingt es ihnen, eine Fahrraddemonstration in Richtung der Buna-Werke zu starten. Bald darauf erfolgt die Verhaftung Lothar Rochaus – das endgültige Aus für die Offene Arbeit. Den Bewegten bleibt nur der Rückzug in Gemeinden der Altstadt Halles.
Der Kreiskirchenrat hatte Mitte Februar 1982 der Empfehlung eines Stellenwechsels nur unter Vorbehalt zugestimmt. Zum einen sollte eine einvernehmliche Lösung mit Lothar Rochau gefunden und zum anderen die Jugendarbeit in Halle-Neustadt fortgeführt werden. Eine verbindliche Suspendierung vom Dienst war das noch nicht. Eine Übergangszeit bis Anfang September wurde dem Jugenddiakon zugestanden.
Konkrete Vorstellungen zur Fortsetzung der Offenen Arbeit bestanden auf Seiten der Kreiskirchenleitung nicht – weder in personeller noch programmatischer Hinsicht. Maßnahmen zur Konzeption ergriff die Kirchengemeinde Halle-Neustadt trotz der Aufforderung dazu durch die vorgesetzten Stellen ebenso wenig. Vielmehr behielt sie sich vor, Entscheidungen dazu erst für die Zeit nach Rochaus Weggang anzusetzen. Konnte man die Jugendlichen und jungen Erwachsenen der OA einfach sich selbst überlassen?
Rochau entschied sich für das Weitermachen in Halle-Neustadt. Bis auf weiteres und mit wesentlichen Einschränkungen: Für die Werkstattage musste Ersatz gefunden werden. Das Gelände der Kirchengemeinde konnte für den wochentäglichen Routinebetrieb nur noch sehr bedingt genutzt werden. Allein der offene Freitagabend im Bauwagen blieb vorerst. In der Not wich die OA an andere Orte aus. Die Hauskreisarbeit wurde intensiviert. Ebenso das Engagement für Friedensveranstaltungen in anderen Gemeinden der Stadt Halle. Oft traf man sich zu Lesungen und Themenabenden in Wohnungen. Den zunehmend eingeschränkten Kontakt zur Kirchengemeinde unterhielt maßgeblich Katrin Eigenfeld durch Präsenz in den Gemeindeleitungssitzungen. Unterstützung erfuhren der Jugenddiakon und die OA während dieser Phase im Kirchenkreis. Nach Abfrage der Halleschen Gemeinden fanden die 7. Werkstattage 1982 in der Luthergemeinde statt. Im Sommer des Jahres folgte dann das unangemeldete Abschlussfest für Lothar Rochau auf dem Passendorfer Kirchengelände.
Nach der Sommerpause lehnte die Leitung der Kirchengemeinde die Fortführung der Jugendarbeit, so wie sie bisher gestaltet wurde, erneut strikt ab. Hinzu kam der Verweis auf den Personalmangel zur Abdeckung eines solchen Angebots. Im Gegenzug wurden die Forderungen der OA-Gemeinschaft mit dem Ende der Übergangszeit vehementer. Die Kirchenkreisleitung wurde von Vertretern der OA um Hilfe gebeten. Als schließlich auch noch der verbliebene Freitagabend verwehrt werden sollte, kam es im September des Jahres zwischen Kirchengemeinde, Superintendent und Stadtjugendpfarrer über die Herausgabe des Schlüssels zum Bauwagen zum Eklat.
Im Anschluss erklärte sich die Gemeindeleitung als nicht mehr zuständig für die Betreuung der Über-18-Jährigen. Der Versuch eines Neuanfangs scheiterte kläglich mit ausgesprochenen Hausverboten. Für die Jugendlichen war die Passendorfer Kirche damit Geschichte geworden. Der Kirchenkreis konnte weder den Ausfall personell abfedern noch die nun gänzlich auf Hauskreise reduzierte OA unterstützen. Er untersagte sowohl dem suspendierten Jugenddiakon als auch den Freunden der OA die weitere Abhaltung entsprechender Veranstaltungen. Die institutionelle Einbindung war weggebrochen.
Für Lothar Rochau, offiziell zu Weiterbildungszwecken beurlaubt, begann eine Zeit der erfolglosen Suche nach neuen Arbeitsmöglichkeiten in der Kirchenprovinz und im gesamten Gebiet des Bundes der Evangelischen Kirchen. Aber – wo auch immer er hinkam, immer gab es Gründe, die gegen ein Arbeitsverhältnis sprachen.
Die Kirchenleitung schien der Entwicklung machtlos gegenüber zu stehen. In der ganzen DDR sollte es keine freie Stelle für Rochau im Kirchendienst geben. Zudem nahmen die Verantwortlichen wahr, dass der vom Dienst Suspendierte, trotz ausdrücklicher Aufforderung zur Unterlassung, weiterhin die jungen Menschen der OA betreute. Staatliche Vorhaltungen dazu taten ihr Übriges. Vermeintlich blieb dem Kirchenkreis nur die fristgemäße Kündigung zum Ende Februar 1983.
In der Passendorfer Kirche war bereits vor der Kündigung des Jugenddiakons keine Offene Arbeit mehr möglich gewesen. Abstimmungen über künftige Aktivitäten fanden in der Vertrautheit privater Hauskreise statt. Daneben blieb nur noch der Weg in die Öffentlichkeit. Die gewachsene Gemeinschaft suchte nach dem Rauswurf aus der Kirchengemeinde in Halle-Neustadt nach Möglichkeiten, zu den drängenden, in der OA bisher ohnehin thematisch begleiteten Problemen der Zeit – das atomare Wettrüsten in Mitteleuropa, die Menschenrechtsfrage im Ostblock, die Militarisierung und politische Degeneration der DDR-Gesellschaft sowie die massiven Umweltschädigungen der “volkseigenen” Industrieproduktion – Stellung zu nehmen. Schon zum Weltfriedenstag 1982 hatte die OA Staat und Kirche durch das gemeinschaftlich öffentliche Tragen des Friedenstaube-Symbols darauf aufmerksam gemacht, dass mit einem stillen Rückzug in die Bedeutungslosigkeit nicht zu rechnen war. Die ehemalige Offene Arbeit wurde so zu einem frühen Beispiel der Etablierung oppositionellen Verhaltens in der DDR in der ersten Hälfte der 1980er Jahre.
Es folgten weitere öffentlichkeitswirksame Aktionen. Zu Fragen des Friedens sorgte die OA Mitte März 1983 auf einer staatlichen Veranstaltung der URANIA im Clubhaus der Gewerkschaften “Hermann Duncker” für Verunsicherung unter den anwesenden Genossen von der NVA. Mit einem Paukenschlag erinnerte die OA nach der Kündigung des Jugenddiakons daran, dass auch weiterhin mit ihr zu rechnen sei: Am 19. Mai 1983 mischten sich die Bewegten mit Kerzen und Friedenstransparenten unaufgefordert unter eine offizielle „Friedensmanifestation“ zum Pfingsttreffen der FDJ, nachdem Versuche zur Kontaktaufnahme mit der staatlichen Jugendorganisation gescheitert waren. Durch Sicherheitskräfte abgedrängt, gelang es einzelnen trotzdem, vor dem Polizeirevier am Hallorenring zu protestieren. Der Staatssicherheitsdienst registrierte die Aktion sehr genau.
Für den 5. Juni 1983 riefen Mitglieder der Offenen Arbeit alle Gemeinden des Kirchenkreises dazu auf, sich an einer Fahrraddemonstration nach Schkopau zu beteiligen. Mit Gasmasken und Transparenten sollte gegen die gravierende Umweltzerstörung durch die ortsansässigen chemischen Werke BUNA protestiert werden. Staatliche Stellen waren im Voraus unterrichtet und versuchten, potenzielle Teilnehmer durch Vorladungen zur Volkspolizei und Einbestellungen zu Aussprachen massiv einzuschüchtern. Teilweise erschienen Mitarbeiter des MfS gezielt an den Wohnungstüren der OAler.
Trotz der Drohgebärden fand die Aktion statt. Allerdings beendete ein Großaufgebot an Ordnungskräften die Demonstration am südlichen Stadtrand von Halle vorzeitig. Für die meisten der Teilnehmer endete die Fahrt im Polizeirevier in der Ludwig-Stur-Straße. Es folgten Festsetzungen und stundenlange Verhöre.
Der ehemalige Jugenddiakon und seine Familie wurden zu dieser Zeit bereits offen durch die Staatssicherheit observiert. Am 23. Juni 1983 schließlich erfolgte der „Zugriff“, also die Verhaftung Rochaus. Er wurde in die MfS-Untersuchungshaftanstalt „Roter Ochse“ gebracht. In den wochenlangen Vernehmungen kamen 1.000 Seiten Anklageschrift zusammen. Ein Verhörspezialist des MfS war eigens dazu aus der Berliner Zentrale angereist. Nach einer nur fünftägigen Verhandlung stand das Urteil im September fest: Drei Jahre Haft wegen „staatsfeindlicher Hetze“ sowie „Beeinträchtigung der staatlichen und gesellschaftlichen Tätigkeit“.
Zusätzlich wurden am 31. August des Jahres noch die Mitglieder eines Vorbereitungskreises für den Weltfriedenstag festgenommen. Darunter auch das ehemalige Gemeindeleitungsmitglied Katrin Eigenfeld. Die Offene Arbeit war damit offiziell zerschlagen.
Allerdings ging das Kalkül des Staats nicht ganz auf: Entgegen der Hoffnung auf eine klammheimliche Abwicklung sorgten die Verhaftungen von Rochau und Eigenfeld für Aufsehen in der verhassten Westpresse und Interventionen der westdeutschen Politik. Zudem bekundeten die Kirchen in der DDR ihre Solidarität mit den Inhaftierten durch Eingaben und Verlautbarungen. Und das ausgerechnet im pompös begangenen Jubiläumsjahr anlässlich des 500. Geburtstag von Martin Luther, in dessen Verlauf der Welt eigentlich das vermeintlich gute Verhältnis von Kirche und Staat demonstriert werden sollte.