1977 sucht die Kirchengemeinde Halle-Neustadt einen Mitarbeiter für die Betreuung einer Jungen Gemeinde. Auf die ausgeschriebene Stelle meldet sich der 24-jährige Thüringer Lothar Rochau. Von dort bringt der Jugenddiakon die Idee der Offenen Arbeit mit und beabsichtigt, das Konzept in Halle-Neustadt umzusetzen.
Binnen kurzem entsteht am südlichen Rand der wachsenden Chemiearbeiterstadt ein bis dahin unbekannter Freiraum für Heranwachsende. Die Offene Arbeit wächst schnell. Mit ihren Werkstattagen wird sie unter Eingeweihten republikweit bekannt. Aus einem Gemeindefest entwickelt sich eine Art kleines Festival mit überregionalem Publikum. Zweimal im Jahr wird das Gelände der Neustädter Gemeinde für ein Wochenende zum Ort der großen und kleinen Freiheiten.
Die Offene Arbeit war ein neuartiger und kreativer Ansatz der evangelischen Jugendarbeit in den 1970er Jahren. Aufgrund des massiven Mitgliederschwundes während der Ära Ulbricht sah sich der Bund der evangelischen Kirchen (BEK) veranlasst, solch innovative Wege versuchsweise zu beschreiten. Das Konzept antwortete auf wesentliche Umfeldbedingungen im real existierenden DDR-Sozialismus: eine religionsferne Mehrheitsbevölkerung sowie ein politisch vereinnahmendes Bildungs- und Erziehungssystem.
Die Öffnung einer Jungen Gemeinde versprach offene Türen für alle, die kamen. Radikal wurde das Modell einer Kirche für Andere erprobt. Der Schutz der Kirche ermöglichte Gespräche ohne Vorbehalte und die vorurteilsfreie Annahme jedes Menschen. In den praktizierenden Kirchen bildete sich ein Freiraum für Heranwachsende – egal ob Christ oder nicht. Offene Arbeit begegnete als Kontrastprogramm zur allgegenwärtigen Bevormundung der Jugend durch den sozialistischen Staat, der gegen den offensichtlich allgemeinen Trend in allen hochentwickelten Industriegesellschaften darauf beharrte, kein Jugendproblem zu haben.
Erste Erfolge verzeichnete die Offene Arbeit vor allem im Bereich der Thüringischen Landeskirche. Der Braunsdorfer Jugendpfarrer Walter Schilling gilt als einer der geistigen Väter des Konzepts. Er etablierte und betreute seit den frühen 70er Jahren ein wachsendes Netzwerk von Aktivisten. Maßgeblich sein Engagement hielt die republikweit sich entwickelnde Szene zusammen: durch Rüstzeiten in Braunsdorf, regemäßige Treffen und Gemeindefeste in den Zentren der Offenen Arbeit. Einen Einstieg bildete oftmals die zweijährige Spezialausbildung zum Jugenddiakon am Johannes-Falk-Haus in Eisenach. Hier bekam auch Bruder Rochau von den Neinstedter Anstalten 1975 bis 1977 die prägenden Kenntnisse und Kontakte vermittelt.
1967 – Drei Jahre nach der Grundsteinlegung für die Chemiearbeiterstadt im Westen Halles gründete sich die evangelische Gemeinde Halle-Neustadt und nahm ihren Sitz in der alten Passendorfer Dorfkirche. Im Generalbebauungsplan für die neue Stadt war keine Kirche vorgesehen. Die barocke Landkirche aus dem 18. Jahrhundert lag anfangs außerhalb der Gemarkung der Flächenbaustelle Halle-Neustadt. Erst mit dem Wachstum der Großsiedlung rückte sie unmittelbar an deren Rand. Da mit staatlicher Unterstützung nicht zu rechnen war, wurde das Provisorium zur dauerhaften Einrichtung. Es mangelte an vielem – besonders an Räumlichkeiten für den Betrieb und Unterkünften für das Personal, an Telefonen, Materialien, Geld und Planungssicherheiten. Die Gemeinde behielt lange Zeit den Sonderstatus im Aufbau.
Die zuziehende Bevölkerung der bis Anfang der 80er Jahre wachsenden Plansiedlung war im Altersdurchschnitt sehr jung und überwiegend religionsfern. Eine zahlenmäßig relevante Altersgruppe an Jugendlichen wuchs mit den 70er Jahren heran. Die sozialistische Stadt im Werden hatte Heranwachsenden jedoch wenig zu bieten. So stellte sich ein Bedarf an kirchlicher Jugendarbeit für die Gemeinde erst Mitte des Jahrzehnts – dann aber merklich – ein. Eine ausreichende Betreuung konnte durch die hauptamtlichen Gemeindemitarbeiter nicht gewährleistet werden.
Auf die deshalb ausgeschriebene Stelle meldete sich Lothar Rochau. 1977 wurde er als Jugenddiakon verpflichtet. Die Gemeindeleitung gestand ihm das Beschreiten unkonventioneller Wege für den Aufbau einer Jungen Gemeinde zu. Und unkonventionell entwickelte sich die Offene Arbeit Halle-Neustadt – bald geläufig als OA. Dem Mangel an Räumlichkeiten etwa half die Herrichtung eines Bauwagens auf dem Kirchengelände als eigener Raum für die Jugendarbeit. Mit viel Engagement entstand ein Alltagsbetrieb aus Seelsorge und praktischer Hilfe mit Sprechstunden, gemeinsamen Abenden, Hauskreisarbeit, Wochenendausflügen, Urlauben, Wanderungen, Besuchen anderer Zentren der Offenen Arbeit und Rüstzeiten. Besonders beliebt wurde der offene Freitagabend im Bauwagen – mit Diskussionen bei Rockmusik und Bier.
Vor allem in den Kneipen Neustadts warb Diakon Rochau anfangs Interessierte. Bald schon kamen mehr und mehr Heranwachsende auf das Gelände der Passendorfer Kirche. Ein harter Kern bildete sich rasch als Freundeskreis um Lothar Rochau. Auch aus Alt-Halle war Zulauf zu verzeichnen. Zudem stieg die Zahl der diakonischer Hilfe Bedürftigen stetig. Schätzungen der Staatssicherheit zufolge sammelten sich in der OA im ersten Jahr bis zu 150 Jugendliche und junge Erwachsene im Alter von 15 bis 25 Jahren. Das MfS folgte der Entwicklung von Anfang an argwöhnisch.
Die Werkstattage genannten Gemeindefeste bildeten den Höhepunkt im Jahreskalender der Offenen Arbeit Halle-Neustadt. Zweimal im Jahr, so die Vorstellung, sollten sie ausgetragen werden. Von 1978 an jeweils im Frühling und im Herbst. Die Veranstaltungen erforderten emsige Vorbereitung, großen Einsatz und Materialaufwand. Die Planungen dazu beschäftigten den Vorbereitungskreis frühzeitig. Unter den Bedingungen der Mangelwirtschaft waren ein hohes Maß an Eigenleistung und Organisationstalent gefragt.
Binnen kurzer Zeit erfuhr die OA Ha-Neu überregionale Beachtung aufgrund ihrer Werkstattage. Diese wurden zum festen Bestandteil der Reisebewegungen in der republikweiten Szene – erkennbar an jungen Leuten in Parka, Jeans, Jesuslatschen und mit langen Haaren. Nicht nur aus den anderen Zentren der Offenen Arbeit in Jena, Erfurt, Karl-Marx-Stadt, Berlin u.a. kam das Publikum. Schnell sprach es sich unter den „Kunden“, „Trampern“, „Gammlern“ und „Bluesern“ in der DDR herum: In Halle-Neustadt geht was!
Wer anreiste, konnte ein Wochenende lang den Ausnahmezustand vom grauen Alltag der allgegenwärtigen Bevormundungen durch den Staat erleben. Offenheit und Authentizität prägten den Umgang miteinander. Egal, ob Christen oder Atheisten. Kontakte wurden geknüpft und gepflegt. Ein abwechslungsreiches Programm sorgte für die richtige Musik und das Erlebnis der ungewohnt kritischen Behandlung politischer und gesellschaftlicher Themen. Die Werkstattage boten auch der DDR unliebsamen Künstlern eine Bühne. Diese Mischung ließ vorübergehend das Gefühl von Freiheit aufkommen. Unter dem Schutz der Kirche entwickelte sich eine kritische Masse überregional vernetzter junger Menschen.
Von Veranstaltung zu Veranstaltung wuchsen die Besucherzahlen stetig. Anfangs waren es noch wenige. Aber bereits zu den 4. Werkstattagen konnten über 450 Teilnehmer auf dem kleinen Kirchengelände verzeichnet werden. Mit der steigenden Beliebtheit der Veranstaltung kamen Probleme auf. Fragen der Unterbringung, Verpflegung und hygienischen Versorgung führten die Kirchengemeinde an ihre Kapazitätsgrenzen. Hinzu kam die öffentliche Aufmerksamkeit, die eine solche Ansammlung junger Menschen hervorrief. Und das konnte unter den Bedingungen des real existierenden Sozialismus nur eines heißen: Ärger mit der Staatsmacht stand an.